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MM 23. Januar 2010

Rückblick aus Anlass des 30. Geburtstages der grünen Bundespartei: Wie waren die Anfänge der neuen Gruppierung in der Weinstadt?

„Kaum ein Lokal wollte uns aufnehmen“

Von Konstantin Groß

Er macht das, was er während seines aktiven politischen Engagements propagiert hat. Noch heute hat Reimund Schambeck kein Auto, fährt jede Strecke mit Bahn, Bus oder Fahrrad. Auch zu unserem Gespräch kommt der bald 75-Jährige aus Heidelberg mit dem Drahtesel, den er bei seiner Ankunft zum handlichen Päckchen zusammenklappt.

Wir treffen uns in Schriesheim, in der Wohnung von Gisela Reinhard. Wie Schambeck ist sie ein Pionier des Schriesheimer Ortsverbands der Grünen, deren Bundespartei in diesen Tagen ihren 30. Geburtstag feiert. Wir wollen erfahren, wie sich die Gründung in Schriesheim vollzog.

„Angefangen hat alles mit der Europawahl im Juni 1979“, erzählt Schambeck. Erstmals treten die Grünen an, und auch in Schriesheim machen Menschen für sie Wahlkampf. „Anders als in Heidelberg kamen zu uns aber nicht nur Linke oder Alternative, sondern Leute aus allen Richtungen“, erinnert er sich.

Schambeck als Pionier

Schambeck ist einer von ihnen, seit 1969 in Schriesheim und längst kein Unbekannter. In den siebziger Jahren hat er den Kulturkreis (aber nicht den, der heute so heißt), 1973 das Straßenfest gegründet. Gleichwohl gelten die Grünen als Outlaws. „Kaum ein Lokal in Schriesheim wollte uns aufnehmen, sein Nebenzimmer zur Verfügung stellen“, erinnert er sich. Den Bann durchbricht als erstes der „Kaiser“, dann der Hauser – wenigstens im Bacchuskeller. Beim zweiten großen Urnengang, der Landtagswahl im Frühjahr 1980, ist Schambeck Kandidat für den hiesigen Wahlkreis. Zwar verpasst er den Einzug, doch jetzt ist klar: Man will auch bei der Gemeinderatswahl antreten. Die Nominierungsversammlung steigt in der „Rose“. Spitzenkandidatin ist Gisela Reinhard, seit 1973 in Schriesheim, auf Platz 2 steht Schambeck, auf 3 der Postbeamte Karl Kolmann, ein eher wertkonservativer Naturschützer.

Peter Riehl ist bei der Nominierung dabei. Der Bürgermeister will überwachen, ob alles mit rechten Dingen zugeht. Bei Platz 6 wird er stutzig: Es kandidiert eine Maria McDonald – eine Jux-Kandidatur mit dem Namen des Hotdog-Konzerns? Die Überprüfung ergibt Überraschendes: Sie ist die Tochter von Öko-Winzer Georg Pfisterer. Zum Abschluss des Abends singen alle das Hecker-Lied, einen Kampfsong aus der 1848-er Revolution.

Der Wahlkampf ist unkonventionell. „Am Stadtbrunnen haben wir mit der Gitarre Revolutionslieder intoniert“, erinnert sich Reinhard. Die Themen sind ökologisch geprägt: für Müll-Recycling, gegen die damals geplante Rebflurbereinigung, für verkehrsberuhigte Zone in der Heidelberger Straße und Umgestaltung der Kirchstraße. „Einen Baum in der Straße pflanzen?“, erinnert sich Schambeck an diese verständnislose Frage eines SPD-Stadtrates. Auch sonst gibt es viel Wirbel. Kandidat Dr. Rodger Dittgen aus Altenbach gräbt eine wissenschaftliche Studie aus, wonach Uran im Bergwerk schlummert. Es kommt zu einer Begehung, die nichts findet.

1980 in den Gemeinderat

Schließlich die Wahl, Schambeck und Reinhard sind drin. „Doch akzeptiert werden sie nicht: „Vermeintlich links und zugezogen, ich auch noch Frau – da war man doppelter bzw. dreifacher Außenseiter“, erinnert sich Reinhard. Heute, 30 Jahre später, stellen die Grünen den Bürgermeister, sind nahezu gleich groß wie die stärkste Fraktion CDU, werden durch Parteifreunde im Landtag von Baden-Württemberg und im Deutschen Bundestag vertreten. „Wir haben viel erreicht“, bilanziert Gisela Reinhard, als Stadträtin immer noch aktiv. Reimund Schambeck dagegen hat die Grünen verlassen. „Beim Kosovo-Krieg war die Grenze erreicht“, bekennt er. Reinhard sieht den Krieg wie er, verweist aber auf den Bundesparteitag, auf dem ihre Partei heftig darüber stritt: „Solange dies noch der Fall ist, bin ich hier richtig.“

Schon bei der ersten Sitzung hat es mächtig gekracht

Gleich in der ersten Gemeinderatssitzung mit grünen Mitgliedern 1980 gab es Ärger – nämlich als die erfuhren, dass die Ausschusssitze unter den Fraktionen ausgehandelt wurden. Reimund Schambeck forderte statt Akklamation geheime Wahl im Gemeinderat, doch die Verwaltung hatte keine Stimmzettel vorbereitet. Die Wahl musste verschoben werden, wurde vier Wochen später zum Medienereignis: der Rundfunk kam.

Die Verschiebung bedeutete, dass der Bauausschuss mehrere Wochen nicht tagen, kein Bauantrag beraten konnte. Bauleute und Handwerker gingen Schambeck heftig an: „Sie
haben uns unsere Aufträge versaut.“
Auch im Rat war das Klima eisig. Geschrei, Ordnungsrufe, Verlassen des Saales waren keine Seltenheit. Gisela Reinhard erinnert sich, wie Peter Riehl sich über ihre Äußerungen zum Tunnel derart geärgert hat, dass er alle vor ihm stehenden Akten vom Tisch fegte. „Doch mit der Zeit kam man mit dem Riehl hin“, lobt Schambeck. Auch, weil der Bürgerwille so war: Denn 1984 konnten die Grünen ihre Sitze verdoppeln. Zu Schambeck kamen Hansjörg Höfer, Christian Wolf und Vera Vaihinger. Gisela Reinhard, die aus privaten Gründen „hinten“ kandidiert hatte, rückte nach, als Schambeck im Jahr drauf aus Schriesheim wegzog.


Die Grünen in Schriesheim
  • Erste „grüne“ Aktivitäten gibt es in Schriesheim im Vorfeld der Europawahl vom Juni 1979 und der Landtagswahl vom Frühjahr 1980.
  • Der erste grüne Beitrag im Mitteilungsblatt datiert vom 13. Juni 1979.
  • Am 22. Juni 1980 kandidiert die Grüne Liste erstmals bei der Kommunalwahl und erhält zwei Räte: Gisela Reinhard und Reimund Schambeck.
  • Bei der zweiten Wahl 1984 werden Schambeck, Hansjörg Höfer, Christian Wolf und Vera Vaihinger gewählt.
  • Heute ist die Grüne Liste zweitstärkste Fraktion nach der CDU und stellt den Bürgermeister.



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